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Psychische Auswirkungen der Mauer in der Umgebung von Falkensee

Heiko Richter und Michelle Z. sind beide in Falkensee zur Zeit der Berliner Mauer aufgewachsen. In einem äußerst spannenden Interview berichteten die zwei uns einiges über die Erfahrungen, die sie in ihrer Jugend mit der Mauer machten.  

Die Informationen, die wir aus diesem Zeitzeugengespräch sammeln konnten, verarbeiteten wir in einem Briefverkehr, den es so zwar nie gegeben hat, dessen Inhalt jedoch mit dem Erlebten übereinstimmt. Diese Art der Fiktionalisierung hat uns geholfen, das Erlebte zu kontextualisieren und lesbar zu machen. Den Charakter „Peter“ hat es so nicht gegeben, er hat uns aber bei der Entwicklung der Erzählung geholfen. 

Alle wörtlich zitierten Sätze stammen aus dem Interview mit Heiko Richter und Michelle Z. vom 18.12.2024 im Museum Falkensee.

Brief aus damaliger Sicht von Heiko Richter

                                                                                                                                                                                                09. November 1989

Lieber Peter,

seitdem ihr gestern in diesen Zug nach Prag gestiegen seid, kann ich nicht anders, als die ganze Zeit an euch zu denken. Ich hoffe so sehr, dass euer Plan aufgeht und ihr es in den Westen schafft. Die Tatsache, dass ich euch womöglich nie wiedersehen werde, ist hart, denn ich wusste immer, dass ich euch vertrauen kann. Du, Michelle, unsere anderen Freunde und ich – zusammen sind wir durch dick und dünn gegangen, auch wenn wir immer wieder regelrecht „zurechtgestutzt“ wurden. Aber ich weiß trotzdem, dass jede einzelne dieser Erfahrungen es wert war, denn wir kämpfen hier für etwas Gutes.  

Du und auch die anderen, die jetzt in diesem Moment mit dir auf der Flucht sind, waren ein wichtiger Teil in meinem Leben. Ihr habt mir geholfen, ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln und so, ab einem gewissen Punkt, die Mauer zu hinterfragen. Zugegeben, das hat lange genug gedauert, aber wenn man mit der Mauer aufgewachsen ist, immer in Grenznähe gewohnt hat und zusätzlich auch immer einen Vater in Grenzarmeeuniform zu Hause hat, scheint einem die Mauer einfach 'normal'. Ich habe eine lange Zeit nicht einmal gemerkt, dass wir eingesperrt sind. Aber wie hätte es auch anders sein sollen? Es hat uns auch niemals jemand erklärt, wie es zu der Mauer kam. In der Schule haben sie alles darangesetzt, die Mauer als etwas Gutes darzustellen. Die Slogans, die über die 'ach so tolle Mauer' in der Schule verbreitet wurden, klingen mir noch immer in den Ohren. 

Ich muss auch immer wieder an den Tag „unserer“ Demo denken. Es war ein sehr gutes Gefühl, mit euch zusammen für das Gute einzustehen, auch, wenn es am Ende eine schlimme Erfahrung war. Es ging alles so schnell. In einer Sekunde liefen wir alle noch revolutionäre Lieder singend, auf der Straße, und in der nächsten wurden wir schon in der Hansastraße festgenommen. Niemand von uns wusste in dem Moment, wie es weitergeht. Vermutlich ist das auch gut so. Denn wenn ich gewusst hätte, was uns den Tag und die kommende Nacht noch alles erwartet, hätte ich bestimmt große Angst gehabt. Die Rufe von den Außenstehenden haben auch Mut gemacht. Ich weiß, dass sich auch diese Leute in große Gefahr gebracht haben, indem sie meinten, die Polizisten sollten uns in Ruhe lassen, aber es war ein wirklich schönes, fast erhebendes Gefühl, andere Leute auf seiner Seite zu wissen.  

Vor allem die Frau, die sich durch die Menge von Polizisten gedrängelt hat, war eine große Hilfe. Ich kann kaum fassen, dass die Polizei nichts für unseren Freund getan hat, nachdem er durch den rabiaten Einsatz mit dem Kopf auf den Bürgersteig gefallen war. Sie haben ihn einfach blutend liegenlassen. Sie wollten die Frau, die sagte, sie sei Krankenschwester, nicht einmal durchlassen. Es war ihnen einfach egal, was mit ihm ist und wie es ihm ging. Aber zum Glück hat sich die Frau seiner angenommen und zum Glück wurde er auch ins Krankenhaus gebracht. Ich bin mir nicht sicher, ob du es mitbekommen hast, aber er ist dann tatsächlich aus dem Krankenhaus geflohen. Er wusste scheinbar genauso wenig wie wir, was auf ihn zukommt und hat aus Angst gehandelt. 

Ich bin ehrlich mit dir: In dem Moment, als ich in diesen LKW von der Polizei gedrängt wurde, wusste ich nicht, was uns erwartet und wo wir hingebracht werden. Ich hatte pure Angst. Als wir dann zum Polizeirevier in der Kochstraße gebracht und dort zweimal verhört wurden, habe ich mich wirklich wie ein Schwerverbrecher gefühlt. Die Polizisten meinten zwar, dass ich mir keine Sorgen machen soll und dass Michelle schon zu Hause ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie trotzdem wollten, dass wir uns so richtig schuldig fühlten. 

Als sie uns dann einzeln aufgerufen und uns in zwei Schüben nach Nauen zur Hauptpolizei gefahren haben, hat sich dieses Gefühl nur verstärkt. Der LKW, mit dem wir transportiert wurden, war ein richtiger Sträflingstransporter mit Gittern, einem Polizisten, einer Plane und zwei Sitzbänken an den langen Seiten. In Nauen wurde es dann auch nicht viel besser. Du erinnerst dich doch bestimmt noch, wie wir die ganze Nacht in dem Speiseraum sitzen mussten, immer zwei Meter Abstand zur nächsten Person und zur Wand gedreht. Die ganze Nacht über hatten die Polizisten die Fenster in dem Raum weit offengelassen, damit uns so richtig schön kalt wird. Es war furchtbar.  

Als wir am nächsten Morgen nach einer harten Nacht mit unzähligen Befragungen und „erkennungsdienstlichen Maßnahmen“, wie sie es nannten, unsere Fingerabdrücke hinterlegen mussten und sogar gezwungen wurden, eine Erklärung zu unterschreiben, die besagte, dass wir nie wieder an staatsfeindlichen Demos teilnehmen werden, wurden wir in einzelnen Gruppen entlassen und durften mit dem Zug nach Hause fahren. Aber was erzähle ich dir hier eigentlich alles? Du warst auch dabei und hast alles genauso an eigenem Leib erlebt. Es tut einfach gut, sich noch einmal alles von der Seele zu schreiben. 

Was du aber noch nicht weißt, ist, dass ich noch ein weiteres Problem hatte: Die Polizisten wollten mir meinen Personalausweis nicht wiedergeben, sondern bestanden darauf, ihn meinem Vater persönlich zu geben. Wie das bei meinem Vater ankam, der ja schließlich an der Grenze arbeitet, muss ich dir nicht erzählen. Ich glaube, du kannst dir seine Begeisterung sehr gut vorstellen. Das war aber noch nicht mal mein größtes Problem. Ich hatte nämlich noch Infobroschüren und Flugblätter, beispielsweise vom „Neuen Forum“, bei mir zu Hause rumliegen und ich traute der Polizei nach dieser Nacht wirklich alles zu. Ich hatte Angst, dass sie auf die glorreiche Idee kämen, mein Zimmer zu durchsuchen. Zum Glück war ich vor den Polizisten da und konnte meinen Bruder bitten, all das zu verbuddeln bzw. zu vernichten. Am Ende stellte sich heraus, dass die Polizei NICHT mein Zimmer durchsuchen wollte und dass ich meine Flugblätter umsonst vernichtet hatte. Ich glaube, es war trotzdem die richtige Entscheidung. Was hätten sie mit mir gemacht, wenn sie sie gefunden hätten? 

Eine Sache habe ich von diesem 6. Oktober wirklich gelernt: wenn etwas passiert, dann passiert es. Und es gibt keinen Grund, aufzuhören für seine Zukunft und seine Träume zu kämpfen. In dieser Welt ist es wichtig, dass man Freunde wie dich hat, denen man vertrauen kann. Ich bin mir sicher, mein Freund, dass ich ohne dich, mit dem ich mich immer so gut austauschen konnte, durchgedreht wäre. Und ich danke dir für diese gemeinsame Zeit.  

Das musste alles mal gesagt werden, auch wenn dich dieser Brief niemals erreichen wird. Es wäre sinnlos, ihn abzuschicken. Ich weiß nicht einmal, wo du gerade bist und ob ihr gut durchgekommen seid. Es ist erschreckend nicht zu wissen, wie es euch geht und ob wir uns jemals wiedersehen. Ich muss aufhören, darüber nachzudenken.  

Dein Heiko 

Brief aus damaliger Sicht von Michelle Z.

                                                                                                                                                                                               09. November 1989 

Lieber Vater,

​​

ich schreibe dir erneut einen Brief, auch wenn ich weiß, dass du diesen vermutlich nie erhalten wirst. Du bist schon seit Anfang September fort und ich bin hier. Ich bin dir nicht böse, weißt du? Ich freue mich, dass du es geschafft hast und hoffe, du bist wohlauf. 

Bei mir ist gerade viel los. Ich werde von der Stasi erpresst. Sie sagen, wenn ich nicht mit ihnen zusammenarbeite, wird Mutter nie zu dir kommen. Dabei versucht sie doch verzweifelt alles, damit ihr wieder zusammen seid. Die Stasi hat mich in ein Auto gezerrt und zu einem verlassenen Ort gebracht. Ich wusste nicht, was sie mit mir vorhaben. Ich war so wütend und hatte Angst. Ich bin aus dem Wagen ausgestiegen und bin einfach gegangen.  Ich hatte Todesangst, aber mein Stolz hat mir verboten wegzurennen. Sie sollten meine Angst nicht sehen. Hätten sie mich erschießen wollen, dann wäre ich jetzt auch tot, aber ich bin in deren Augen noch nützlich. Ich habe Angst vor dem, was sie noch mit mir tun werden. 

Sie nehmen den Müttern noch immer ihre Kinder weg und geben sie zur Adoption frei. Die erzählen den Kindern nicht mal, dass sie ihren Eltern weggenommen wurden. Ihnen wird erzählt, dass sie allein gelassen wurden und ihre Eltern abgehauen sind. Oder sie erzählen, dass ihre Eltern gestorben sind. Ist das nicht schrecklich? Ich kann mir das kaum vorstellen. 

Aber was erzähl ich die ganze Zeit davon, du weißt es ja selbst. Ich muss diese Gedanken nur irgendwie loswerden, ansonsten werde ich verrückt. 

Mit meinen Freunden läuft es gut, ich weiß, dass ich ihnen vertrauen kann, zumindest den meisten. Wir reden viel, das ist wichtig, um zu überleben. Erinnerst du dich an Heiko? Ihm habe ich von der Erpressung erzählt. Niemand sonst weiß darüber Bescheid. Heiko hatte eine großartige Idee, wie ich für die Stasi uninteressant werde. Kurz gesagt: Wenn alle anderen darüber Bescheid wissen, dann bin ich unwichtig für sie. Also wird mir einfach nichts mehr erzählt. Das ist schlau, oder? Ich bin froh, dass ich einen so guten Freund wie ihn habe. Er ist der Fels in der Brandung und macht es um einiges erträglicher für mich. 

Die ganze Verfolgung durch die Stasi hat mit einer Demo angefangen, auf der ich festgenommen und dann verhört wurde. Es war schlimm. Ich hatte trotzdem Glück und durfte am Abend wieder gehen, anders als Heiko und die anderen. Ich wollte die anderen aber nicht allein lassen, nachdem ich freigelassen wurde, aber ich durfte nicht von zu Hause weg. Ich habe es versucht, wurde aber wieder zurückgeschickt. Sie standen an beiden Straßenecken. Ich hatte große Angst um die anderen. 

Ich habe dir doch vorhin was über meine Freunde geschrieben. Weißt du, was vor der Demo passiert ist? Heiko wollte gerade zur Demo losfahren, aber seine Reifen waren platt, einfach zerstochen! Da hat uns doch tatsächlich einer unserer Freunde verraten. Ich dachte eigentlich, ich wüsste, wem ich trauen kann und wem nicht, doch diese Tat hat mir leider das Gegenteil bewiesen. Diese Verbrecher lauern überall. Ich dachte, meine Freunde und ich hätten alle dieselbe Meinung über die Mauer und diesen Staat. Die Meinung, dass die Mauer nicht gut ist und dass wir sie nicht einfach so hinnehmen müssen. Scheinbar muss ich in Zukunft wachsamer sein. Vielleicht werden sie auch erpresst und können sich nicht wehren. 

Ich denke, vorerst ist alles gesagt. Ich werde dir bald wieder schreiben, wenn ich dann noch lebe. Diese Ungewissheit, was die Zukunft angeht, ist echt schrecklich. Ich werde hierbleiben und weiter für meine Zukunft kämpfen. 

Ich vermisse dich und gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir uns irgendwann wiedersehen. Ich glaube fest daran und ich weiß, dass du das auch tust. 

Deine Michelle

Heiko Richter über Schule und Armee

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Heiko Richter über Druckmittel der Stasi

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Michelle Z. über Erpressung der Stasi

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Heiko Richter und Michelle Z. über Meinung zur Berliner Mauer

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Text aus heutiger Sicht von Heiko Richter

Heute verwalte ich als Bürgermeister die Stadt, in der ich groß geworden bin. Meine Heimatstadt Falkensee. Ich habe eine wunderbare Frau und drei Kinder und die Mauer steht schon lange nicht mehr. Früher war die Mauer eine Grenze, welche man nicht überschreiten durfte. Wer damals nicht dabei war, kann sich das wohl nicht vorstellen. Ich vermisse diese Zeit nicht, denn heute kann ich überall hin. Allerdings haben mir die besonderen, damaligen Gegebenheiten einen Erfahrungsschatz mitgegeben, auf den nicht jeder zurückgreifen kann. Ich bin heute sehr glücklich und konnte mir ein Leben aufbauen, in dem ich nicht mehr durch eine Mauer eingegrenzt bin. Geprägt, und da wird mir wahrscheinlich jeder zustimmen, der diese Zeit bewusst wahrgenommen hat, wurden wir alle durch diese Grenze aber in jedem Fall. Rückblickend könnte man auch sagen, durch sie und die besonderen, damit verbundenen Erlebnisse bin ich so geworden, wie ich heute bin. Natürlich akzeptiere ich meine Vergangenheit und bin dankbar für jede bleibende Erfahrung, auch wenn sie manchmal nicht nur positiv waren. Wenn meine Kinder mir Fragen zu der Mauer stellen, beantworte ich diese gerne.

Ich fühle mich sicher und wohl in meinem Umfeld und meiner Umgebung.

(Heiko Richter, 06.02.2025)

Text aus heutiger Sicht von Michelle Z.

Heute bin ich glücklich und dankbar dafür, dass ich die Zeit der Mauer erlebt habe. Sie hat mich geprägt und in dieser Zeit habe ich viel über Menschen gelernt. Ich denke kaum noch an die Mauer, es sei denn, ich rede darüber. Manchmal fühlt es sich an, wie eine Heimat, die nicht mehr existiert. Ich bin mit der Mauer aufgewachsen, sie gehörte zum Alltag für mich. Früher musste ich viel aushalten, da meine Eltern einen Ausreiseantrag gestellt hatten und daher klar war, dass meine Familie die Mauer nicht akzeptiert und darum überwacht wurde. Ich wurde von Leuten schlecht gemacht, die eigentlich für mich da sein sollten. Eine eigene Meinung wurde nicht geduldet und es gab nur wenige Lehrer an meiner Schule, die auf meiner Seite waren. Es war eine harte Zeit, jedoch hätte es deutlich schlimmer enden können. Ich hatte Glück. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wäre am 09. November nicht die Mauer geöffnet worden. Ich lebte mit der Angst, dass sie mich umbringen würden. 

Die Mauer war eine Grenze, die nicht überschritten werden durfte. Doch was war mit uns? Bei den Menschen wurden Grenzen überschritten, die nie hätten überschritten werden sollen. Wir wurden zu Dingen gezwungen, die schrecklich waren, und wenn wir uns dagegen aussprachen, hat man uns das Leben zur Hölle gemacht. 

Ich bin froh, dass ich heute in Sicherheit leben darf und hinreisen kann, wohin auch immer ich möchte. 

Hier geht es zu den Quellen, die wir in diesem Projekt verwendet haben.

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