Alltag in der DDR in Falkensee
Die Mauer hatte einen großen Einfluss auf das Leben der Bewohner Falkensees. In unserem Projekt wird der Alltag während und nach der Zeit der Mauer, also während der Zeit ab 1961, thematisiert.
Unterthemen
1961: Die Mauer wird errichtet und einige Monate später erhält Falkensee das Stadtrecht. Während das Kulturangebot wächst, geht es mit der Wirtschaft herab. Einige beschreiben Falkensee als einen Ort der Begegnung, andere als ein welkendes Mauerblümchen. Die folgende Geschichte beschäftigt sich mit den Höhen und Tiefen des Alltags in Falkensee. Viel Spaß beim Lesen!
Der Alltag der Bewohner Falkensees mit Zahlen und Fakten
In diesem Text geht es um den Alltag nach dem Mauerfall. Für die Erstellung dieses Beitrages haben wir ein Interview mit Daniela S. geführt.
Mit dem Bau der Grenze änderte sich das Leben in ganz Ostdeutschland. In einigen Gebieten merkte man das jedoch mehr als in anderen. In einem Interview mit Frau Kubicki erzählt sie uns viel über das Leben im Grenzstreifen.
Eine Zeitreise in die DDR
Das Gezwitscher der Vögel weckt dich. Es riecht nach Schokolade und ungenießbarem Kaffee. Dein Bett ist weicher als sonst, du spürst etwas Flauschiges an deinem Gesicht. Dann öffnest du schläfrig die Augen. Hast du besser geschlafen als sonst? Da ist kein Gewicht, das deine Augen wieder zudrücken möchte oder deinen Rücken zusammenstaucht. Du fühlst dich frisch und jung, nur an deinen Haaren zieht es etwas. Komisch, dabei schläfst du immer mit offenen Haaren. Jetzt spürst du zwei geflochtene Zöpfe, als du mit deiner rechten Hand über deinen Kopf fährst. Du stehst auf. Wo bist du? Das ist nicht deine kleine Wohnung in der Bahnhofstraße. Dieses Zimmer ist kleiner, nahezu winzig im Vergleich zu deinem Schlafzimmer. Und das war schon klein. Als Studentin war die Sache mit dem Geld echt schwierig.
Das hier sieht aus wie ein Kinderzimmer. Du stehst nun vor dem schmalen Einzelbett, in dem du aufgewacht bist. Durch das Fenster darüber scheint die Sonne herein. Du schaust hindurch, doch die Sicht wird dir von einem grauen Haus, dessen Putz bereits in Teilen abbröckelt, versperrt. Nur oben rechts hinter dem Dach lugt die Sonne heraus und beschenkt dich mit ihrem glänzenden Morgenlicht. Direkt neben deinem Bett steht ein quadratischer Schreibtisch. Darauf stapeln sich alte Bücher und dir fremde Arbeitsblätter. Klasse 9B steht oben in der rechten Ecke. Auch ein Schrank und ein Bücherregal stehen im Zimmer. Alles ist in dunklen Holztönen gehalten. An der gelbgemusterten Tapete hängen Schwarzweißbilder und auf dem grauen Teppich liegen überall verteilt Stifte, bunte Blätter und Kleber. Neben deinem Bett entdeckst du ein braunes Buch. Till Eulenspiegel.
Du fährst dir mit den Händen über den Kopf und atmest tief durch. Das hier ist nicht dein Zuhause. Das hier ist nicht mal die richtige Zeit. Ganz sicher befindest du dich nicht mehr im Jahre 2025. Solche Bücher sehen heute nämlich ganz anders aus. Und das Schlimmste: Du bist nicht du selbst. Du fühlst dich kleiner und fitter. Du erinnerst dich zwar an die aktuellen Nachrichten - der Messerangriff in Aschaffenburg schockiert dich noch immer - , aber dein Körper ist ganz sicher ein anderer. Bist du in der Zeit zurückgereist?
In deinem Kopf bildet sich ein Plan: Du musst dein Handy finden. Das zeigt dir an, welcher Tag heute ist. Du hockst dich auf den Boden, irgendwo hast du es sicherlich liegen lassen. Dein Geist ist schließlich derselbe, also müssen deine Gewohnheiten auch gleichgeblieben sein.
„Jaqueline! Wo bleibst du denn? Ich habe nicht ewig Zeit, wir schreiben heute eine wichtige Arbeit!”, ein etwa achtzehnjähriges Mädchen reißt die Zimmertür auf. Sein Faltenrock schwingt um die Knie, die Haare trägt es in einem Pferdeschwanz.
„Du bist noch nicht einmal angezogen!”, stellt es entsetzt fest.
„Hier, zieh das an!”, es hat deinen Schrank aufgerissen und reicht dir ein gelbes Kleid und Unterwäsche, „Ich schmiere dir ein paar Filinchen mit Honig. Wehe, du kleckerst. Wir treffen uns in fünf Minuten mit Doreen an der Tür. Vergiss deine Schultasche nicht wieder.”
Und damit verschwindet das Mädchen wieder und lässt dich verwirrt zurück.
Drei Wochen ist es her, dass du in einem fremden Körper in einem fremden Zimmer und einer fremden Zeit aufgewacht bist. Du weißt nicht, wie es geschehen ist, aber nun steckst du im Körper der 15-jährigen Jaqueline fest. Plötzlich befindest du dich im Jahr 1971 und lebst mit deinen Schwestern Yvonne und Doreen und deinen Eltern in einem alten, heruntergekommenen Haus. Es ist nicht mal ans Abwassernetz angeschlossen. Aber wenigstens habt ihr eine Toilette. Du weißt auch von Familien, die nur Außentoiletten haben.
Mit der Zeit hast du dich an den Alltag hier in Falkensee gewöhnt. Wenn du dir in deinem alten Leben die DDR vorgestellt hast, hast du dir das Leben trist und diszipliniert vorgestellt. Aber so ist es nicht. Ja, Falkensee ist klein, unattraktiv und zerfällt langsam. Ihr habt kein wirkliches Stadtzentrum. In der Straße der Jugend, das müsste die heutige Bahnhofstraße sein, stehen neben Bauernhöfen Siedlungshäuser sowie Wohn- und Geschäftshäuser. In den Wohngebieten sieht es nicht besser aus: Ab und zu sieht man noch für die Zeit moderne Einfamilienhäuser mit großen Gärten, aber daneben stehen verwilderte Grundstücke und Wochenenddomizile. Von Letzteren gibt es sogar echt viele. Du hast dir das mal von deiner Mutter erklären lassen, als ihr gemeinsam zum Bäcker Thonke am Bahnhof Falkensee gelaufen seid. Als die Mauer errichtet wurde, waren nämlich einige Leute gerade im Westen. Deren Häuser stehen jetzt unter Zwangsverwaltung und können nur verpachtet werden. Und ja, die Leute hier streben nach Disziplin. Im Unterricht lernt ihr, gute Staatsbürger zu werden. Bei den Jungpionieren und später der FDJ mitzumachen, ist ausdrücklich „erwünscht“. Deine große Schwester hätte sonst nicht ihr Abitur machen dürfen. Das ist hier schon mit hervorragenden Noten und Verhaltensweisen außerordentlich schwierig.
Es ist ein sonniger Samstagmorgen. Dein Schultag beginnt immer gleich. Du stehst um sechs auf, ziehst dich an und gehst runter zum Frühstückstisch. Im Hintergrund läuft das Radio. „Radio DDR” heißt es. An den Samstagen bist du besonders müde. Du bist es einfach nicht gewohnt, auch am Samstag zur Schule zu gehen und früh aufstehen zu müssen. Deine Eltern und Yvonne müssen samstags nicht arbeiten. Trotzdem stehen sie zur gleichen Zeit wie ihr auf und deine Eltern reden über die Arbeit, während du mit deinen Schwestern witzelst. Ihr esst Filinchen. Du mit Honig, sie mit Nudossi. Nutella habt ihr hier im Osten nicht.
Danach gehen du und deine kleine Schwester los. Doreen hat einen großartigen Lederschulrucksack mit einem Schmetterling, den du viel besser findest als die Einhornmappe aus deinem alten Leben. Die Straßen sind kaputt und es fahren nur wenige Autos, dafür sieht man regelmäßig sowjetische Offiziere. Ampeln und Kreisverkehre gibt es nicht.
Ihr geht an vielen, kleinen Geschäften vorbei. Du hast schnell festgestellt, dass Falkensee kaum große Supermärkte hat. Bäckereien, Fleischer und Bekleidungsläden sind über den ganzen Ort verteilt. Da gibt es zum Beispiel die Drogerie Steinmeier, den Delikat-Laden, „Spirituosen” am Bahnhof in der Nähe des Kinos Ala und den Hutladen direkt am Bahnhof Falkensee. Wenn du dich recht erinnerst, gibt es da 2023 einen Eisladen, der immer außergewöhnliche Geschmackskreationen anbietet. Auf jeden Fall findet sich der Hutladen als letztes Haus vor den Schienen. Falkensee hat sogar einen eigenen Schuhmacher und gleich mehrere Fleischer. Die Firma Krüger-Modellbau kennst du noch von 2025.
Auf eurem Weg zur Schule kommt ihr nicht nur an einigen Geschäften vorbei, sondern auch an vielen Restaurants, Gasthöfen, Bars und Cafés. In deiner Straße, du wohnst in der Hansastraße, befinden sich das Hansacafé und das Haus des Handwerkers. Beide Orte sind hervorragend für Feiern und Tanzabende geeignet. Manchmal hörst du abends den Bass und das Gelächter. Deine Familie geht oft essen, auch im Haus des Handwerkers. In den letzten drei Wochen warst du unter anderem sowohl im Gasthaus Eichenkranz, dem Restaurant Bergeshöh und dem Restaurant Goldbroiler als auch im Bayerischen Hof, dem Restaurant Seeblick und dem Keglerheim. Einige der Restaurants kennst du aus deinem alten Leben. Der Bayerische Hof wurde vor einiger Zeit abgerissen, er befand sich auf der Ecke hinter dem Kino Ala, das es auch 1971 schon gibt. Das Restaurant Seeblick ist heute die Seeterrasse am Falkenhagener See und das Keglerheim wurde in Restaurant und Hotel Kronprinz umbenannt. Ihr geht immer mit deiner besten Freundin essen, weil ihre Familie nicht so viel Geld verdient. Dass sie sich trotzdem ein Einfamilienhaus leisten kann, hat dich anfangs stark verwundert. Dann hat deine Mutter in einem Gespräch mit deinem Vater die Hauskosten erwähnt und du hast verstanden. Die Häuser sind so billig, dass 80% der Falkenseer in einem leben.
Ihr lauft nur 15 Minuten, dann seid ihr an der Polytechnischen Oberschule (POS) „Ernst Thälmann“, die der heutigen Europaschule am Gutspark entspricht. Yvonne müsste früher auf die erweiterte Oberschule (EOS) Georgi Dimitroff gegangen sein, die sich auch am Gutspark befindet. Zumindest hat sie Abitur gemacht und das geht nur da. Auch 1971 gibt es in Falkensee viele Schulen. Die Diesterweg-Grundschule wurde schon 1909 gebaut. Ansonsten findet man hier in Falkensee die Lessing-Grundschule, eine Volkshochschule, die Maxim-Gorki-Schule (das hat dich besonders überrascht, weil da heute das Creative Zentrum „Haus am Anger” steht) und eine Geschwister-Scholl-Schule in Falkenhöh. Die Leute in Falkenhöh haben es besonders schlimm. Die meisten von ihnen wohnen im Grenzgebiet. Deine Freundin auch. Sie kann ihren Geburtstag nicht bei sich feiern und eine Übernachtungsparty durfte sie auch noch nie veranstalten. Für das ganze Grenzgebiet ist ein Besuchsverbot erlassen, eine Genehmigung zum Betreten ist nur schwer zu bekommen. Frida hat dir vor ein paar Tagen von einer Nachbarin erzählt, die mit dem Krankenwagen zurückgebracht wurde und ab dem Punkt, wo das Grenzgebiet beginnt, aussteigen und laufen musste. Das hat dich erschüttert. Ist es der Regierung so egal, wie es den Bewohnern geht?
Nach der Schule gehen du und deine Schwester meistens wieder gemeinsam nach Hause. Ihr lauft den Weg zurück, den ihr auch gekommen seid. Du saugst die idyllische Atmosphäre Falkensees auf. Falkensee war vielleicht für Außenstehende unattraktiv: Das rigide Grenzregime in den Grenzgebieten und der Umstand, dass die Stadt wie ein bunter, musterloser Flickenteppich aussieht, schreckt wohl die meisten ab, aber in der Stadt selbst fühlen sich alle als Falkenseer oder Finkenkruger. Nauen ist zu uninteressant, Hennigsdorf nur ein Arbeitsort und Potsdam liegt nicht mehr im Sichtfeld. Wenn man sich erstmal mit dem katastrophalen Zustand, in dem sich die Stadt befindet, abgefunden hat, erkennt man auch die wahre Schönheit. Grüne Bäume, blaue Seen - im Falkenhagener See darf man tatsächlich noch schwimmen gehen -, viele kleine Geschäfte. Falkensee ist trotz der Stadtrechtsverleihung mehr ein Dorf als eine Stadt, eine dörfliche Stadt. Ja, das passt perfekt. Von der schrecklichen wirtschaftlichen Lage mal abgesehen, ist Falkensee eine schöne Stadt. Es gibt viele kulturelle Veranstaltungen, man trifft sich noch draußen und die meisten kennen sich gegenseitig. Feiern kann man hier hervorragend, im Eichenkranz oder im Bayerischen Hof zum Beispiel. Zusammenhalt wird hier besonders geschätzt. Die Modezeichnerin Irena und der Sternegucker Gressman aus der Ringstraße, die Keramikerin Christel Koch aus der Holbeinstraße und die Regisseurin Heide Gauert aus der Kochstraße sind stadtbekannt. Du magst das. Heute kennst du kaum jemanden in Falkensee. Wenn du gerade nicht in Berlin bist, telefonierst du mit deiner besten Freundin oder lernst allein in deiner Wohnung. Die einzige Veranstaltung, die du unweigerlich mitbekommst, ist die Montagsdemonstration. Rausgehen tust du nur für den Einkauf. Manchmal bestellst du dir die Waren auch einfach vor die Haustür. Bananen sind eigentlich immer dabei, die gibt es 1971 leider nicht.
Zuhause angekommen gibt es dann erstmal Mittagessen. Du hast eigentlich schon seit ein paar Stunden Hunger, und das, obwohl du eine reichgefüllte Brotdose mitbekommen hast. Zum Essen setzt ihr euch an den großen Esszimmertisch, der mit einer weißen Tischdecke bedeckt ist. Die Tapeten haben das gleiche Gelb wie die deines Zimmers. Wenn du dich auf den Stuhl setzt, gibt das gemusterte Sitzpolster unter deinem Gewicht nach. Auf manchen Stühlen fühlst du sogar die harte Federung.
Zum Mittag gibt es heute Spinat mit Kartoffeln und Spiegelei. Heute isst du das immer noch gern. Deine Mutter hat dir das in eurer alten Wohnung in Berlin immer gemacht. Spinat mit Ei, Senfeier und „Tote Oma“, das sind als Kind deine drei Lieblingsgerichte deiner Mutter gewesen.
Manchmal kommt deine beste Freundin direkt nach der Schule mit zu deinem Haus und isst mit. Heute ist sie auch dabei. Ihr unterhaltet euch über eure Jugendweihe, die mittlerweile ein halbes Jahr zurückliegt. Selbstverständlich erinnerst du dich nicht, weil du nur weißt, was in den letzten 21 Tagen passiert ist. Dafür erzählt Frida besonders viel über ihre Jugendweihe: Sie hat im Keglerheim gefeiert. Das ist ihr Lieblingsgasthof. Eine Reservierung zu bekommen, ist gar nicht so einfach, weil Falkensees Restaurants um diese Zeit dann besonders oft ausgebucht sind. Fridas Familie war aber sehr früh dran. Sie haben extra gespart, um eine möglichst große Veranstaltung finanzieren zu können.
Danach unterhaltet ihr euch über die Faschingsveranstaltungen. Die sind zwar zeitlich noch etwas entfernt, aber man kann ja trotzdem bereits jetzt Vermutungen anstellen, welche Feier die größte wird. Der Handwerker-Fasching im Eichenkranz oder der Mediziner-Fasching
„Medifa” im Bayerischen Hof? Dass es die Katholiken mit ihrer eigenen großen Feier in der Baracke der PGH-Maler sein könnten, glaubt ihr beide nicht.
Deine Nachmittage verbringst du nicht allein in deinem Zimmer vor dem Bildschirm, sondern draußen. Wenn du gerade nicht bei der FDJ bist, gehst du im See oder in der Schwimmanstalt, dem heutigen Waldbad, schwimmen. Du erkundest die verwilderten Grundstücke in deiner Nachbarschaft oder rodelst im Winter auf den Bergen an der Sonnenstraße. Damals liegt noch Schnee. Bei dem ganzen Spaß dürfen deine Freunde natürlich nicht fehlen. Ihr freut euch jedes Mal aufs Neue, wenn der regelmäßige Rummel wieder stattfindet. Manchmal gastiert sogar ein Zirkus oder Akrobaten führen auf dem Leninsportplatz ihre Show auf! Oft geht ihr auch ins Pionierhaus, da gibt es nämlich sowohl Kinderveranstaltungen, die du mit deiner kleinen Schwester besuchst, als auch Arbeitsgemeinschaften.
Einmal die Woche hast du Volleyballtraining. Der Oberverein, der das organisiert, erinnert dich ein wenig an den heutigen TSV. Es gibt viele verschiedene Sportgruppen, aus denen du wählen kannst. Damals heißt der Oberverein „Motor Falkensee“. Kreativ. Frida geht zum Tennisclub und dem dramaturgischen Zirkel. Ihr beide müsst zur GST, der Gesellschaft für Sport und Technik. Es fühlt sich allerdings eher wie eine Soldatenvorbereitung an. Ansonsten weißt du von Mitschülern, die im Fußballverein Blau-Gelb spielen, beim Tennisclub Mitglied sind oder den künstlerischen Zirkel in der Volkshochschule besuchen. Yvonne geht zur Tanzschule Müggenburg und Doreen zu den Jungpionieren und dem Puppenspielerzirkel.
Manchmal besucht ihr auch eines der vielen Kulturhäuser Falkensees oder das neueröffnete Museum.
Mit Doreen gehst du oft zur Kinderbibliothek in der Hansastraße, in der ihr auch wohnt. Du liebst Bücher. Mit Frida besuchst du regelmäßig die Heimatstube, die Bibliothek in Falkensee. Eigentlich gehst du auch nur mit Doreen in die Bibliothek, weil du den Geruch von Büchern so liebst, aber leider auf sie aufpassen musst. Ehrlicherweise weißt du gar nicht, wo sie sich an den Nachmittagen immer herumtreibt, aber früher war sie zu sehr mit dem Abitur beschäftigt, so erzählt es dir Doreen immer wieder enttäuscht. Deine große Schwester ist eine der wenigen Schülerinnen, die direkt nach der 10. Klasse das Abitur ablegen durften. Die meisten machen eine Berufsausbildung mit Abitur. Du wirst das auch machen. Deine Noten sind zu schlecht gewesen, als dass du nach der 8.Klasse auf die EOS hättest wechseln können. Alle anderen Anforderungen erfüllst du. Dein gesellschaftspolitisches Engagement zeigst du nicht nur durch die Mitgliedschaft in der FDJ, du gestaltest auch die Wandzeitung in der Schule und nimmst an den Altstoffsammlungen teil. Deine Eltern haben auch nie negative Verhaltensweisen gezeigt, auch nicht privat, wo man eigentlich nicht damit rechnen sollte, ausspioniert zu werden. Aber das hier ist die DDR. Da ist das normal. Immerhin könnt ihr dadurch regelmäßig in den Urlaub fahren. Bis ihr die Genehmigung habt, dauert es zwar ewig, aber immerhin fahrt ihr jedes Jahr weg.
Deine Eltern sind auch oft unterwegs, weshalb du dann immer Kindermädchen spielen musst. Manchmal nehmen sie auch deine große Schwester und dich mit. Auf die regelmäßigen Kabaretts im Rathaussaal oder irgendwelche langweiligen Erwachsenenfilme im Kino hat Doreen selbstverständlich keine Lust. Zu den Abendveranstaltungen deiner Eltern im Keglerheim und dem Tanzen im Vier Jahreszeiten - dem „Schuppen”, wie die Bar hier genannt wird - oder dem Gasthof Eichenkranz darf nur Yvonne manchmal mit. Da passt dann deine Oma auf euch auf. Die kommt fast so oft zu Besuch wie Frida.
Am liebsten magst du aber die Kinotage. In Falkensee habt ihr zwei Kinos. Eines davon, das Kino Ala, gibt es noch im Jahr 2025. Das andere am Bahnhof Finkenkrug ist zu der Zeit schon in den MotorFunSports-Motorradhandel umgebaut worden.
Heute bist du mit Frida im Kino Ala gewesen. Weil es draußen so sonnig ist, habt ihr entschieden zu laufen. Wie fast jedes Mal wartet ihr am „Sabotagebalken”, der rotweißen Schranke an den Gleisen, die zum Markenzeichen Falkensees geworden ist, eine halbe Ewigkeit. Dann fährt der Zug des VEB Landmaschinenbaus endlich weiter. Bevor ihr nach Hause geht, wollt ihr noch zur Drogerie Steinmeier. Du brauchst neue Hygieneartikel. Auf eurem Weg lauft ihr an der Löwenapotheke vorbei und du erzählst Frida unauffällig, wie cool du es findest, dass Falkensee neben den vielen kleinen Geschäften auch eine eigene Apotheke hat. Frida lacht.
„Du kennst unsere Stadt aber ziemlich schlecht”, stellt sie fest, „Wir haben hier drei Apotheken: die Löwenapotheke, die Spitzwegapotheke und noch eine dritte, deren Namen ich vergessen habe. Die liegt auf jeden Fall im Krummen Luchweg. In der Nähe gibt es übrigens auch ein Altersheim.“
Du bist erstaunt. Die Spitzwegapotheke kennst du auch. Die ist heute, 2025, in der Nähe des Edekas in Finkenkrug.
Während ihr die kaputten Straßen Falkensees entlangschlendert, kommt ihr an der Dorfkirche Seegefeld vorbei. Die steht heute noch, genauso wie die Dorfkirche Falkenhagen oder die Dorfkirche Neufinkenkrug, nur sind die mittlerweile restauriert.
Am Fleischer trennen sich dann Fridas und deine Wege. Du nimmst den Bus zu dir nach Hause und sie den nach Falkenhöh. Kurze Zeit später, der Bus ist zum Glück pünktlich gekommen, kommst du zuhause an. Du hast noch etwa anderthalb Stunden, bis es Abendbrot gibt. Die Zeit nutzt du, um zu lernen. Die Schule macht dir echt viel Druck, der Leistungsanspruch ist hoch.
Zum Abendessen gibt es heute Linseneintopf. Du magst Linsen nicht wirklich, aber auf den Nachtisch freust du dich umso mehr. Es gibt Leckermäulchen, ein typisches Quarkdessert. Beim Abendessen erzählen eure Eltern meistens. Dein Vater beschwert sich über die schreckliche wirtschaftliche Lage, in der sich Falkensee befindet. Dass die Häuser und Straßen sehr heruntergekommen sind, viele nicht ans Abwassernetz angeschlossen sind und noch Außentoiletten haben, weißt du schon. Auch die Beschwerden über die schrecklichen Bus- und Bahnverbindungen sind nichts Neues. Die Busse fahren nur sehr selten, die S-Bahn verkehrt nicht mehr und wenn man mit der Bahn nach Berlin will, muss man einen großen Umweg um Westberlin fahren. Bei der Versorgung sieht es nicht besser aus. Die Warenversorgung wird sogar in der Zeitung kritisiert: Es fehlt an Kinderkleidung und die Belieferung findet oft erst zum Mittag hin statt. Auch die fehlenden Taxis, die Brotversorgung in Finkenkrug und die schlechte Müllentsorgung im Allgemeinen werden kritisiert. Bei der Gemüseversorgung sieht es nicht besser aus. Die Wirtschaft der DDR geht bergab. Aber dass die DDR-Regierung Schuld hat, besprecht ihr nur, wenn ihr ganz sicher seid, dass euch niemand hört. Dann beschwert ihr euch über die manipulierten Wahlen, die Pakete, die bereits geöffnet und dann wieder geschlossen worden sind, wenn sie bei euch angekommen, und die wirtschaftliche Entwicklung der DDR. Deine Mutter, die hier in Falkensee beim VEB Landmaschinenbau arbeitet (auch eine Sache, die dich positiv überrascht hat, als du plötzlich im Jahr 1971 aufgewacht bist: Frauen sind gleichberechtigt), erzählt euch, dass sich viele Falkenseer als Lückenfüller für die schlimme Wirtschaft fühlen. Zum Glück habt ihr kein Telefon, das abgehört werden könnte bzw. wird. Wenn ihr dann wieder über die normalen Alltagsprobleme redet, fängt Yvonne mit der Wohnungsknappheit an. Sie macht sich Sorgen, weil sie keine Wohnung findet und nicht Ewigkeiten bei euch leben will. In Falkensee gibt es kaum Platz für mehr Leute. Da ist die Zuzugsbeschränkung, die auch Falkensee als Grenzstadt hart getroffen hat, mal gut. Wobei die Leute, die nach Falkensee ziehen möchten, wahrscheinlich alle fliehen wollen, weshalb es diese Einschränkung auch gibt. Trotzdem nimmt die Wohnungssuche in Falkensee zu, weil die Kinder erwachsen werden und aus ihrem Elternhaus ausziehen wollen. Ungünstig, dass es kaum noch freie Wohnungen gibt und sich die Stadt (wohl eher die übergeordneten Organe, aber das sagt ihr natürlich nicht laut) nicht darum kümmert.
Nach dem Essen gehst du erneut lernen, dann legst du dich schlafen. Morgen ist Wochenende, da kannst du zum Glück etwas länger schlafen. Und es gibt kein Knäckebrot zum Frühstück. Brötchen sind deutlich leckerer.
Als du am nächsten Morgen an den Frühstückstisch trittst, sitzt dein Vater schon da und liest in der Zeitung „Märkische Volksstimme”. Wie jeden Sonntag gibt es Brötchen - die sogenannten „Doppelten”, die du auch aus deiner normalen Zeit kennst - und gekochte Eier in Plastikhühnereierbechern. Du nimmst dir immer das grüne. Dazu gibt es Butter, Marmelade, Pflaumenmus, Käse und Nudossi. Am Morgen seid ihr alle positiver und redet über den neuesten Tratsch, anstatt über eure Stadt zu lästern. In Falkensee gibt es immer viel davon. Heute erzählt euch Yvonne von dem Bäckerjungen, der anscheinend etwas mit der Fleischerstochter haben soll. Ob das stimmt, ist aber eine andere Sache. Etwa nach der Hälfte des Essens lenken deine Eltern das Thema auf ihre Arbeit. Dein Vater arbeitet in Berlin und muss immer sehr lange mit dem Zug dahinfahren. Ein Auto habt ihr nicht. In Falkensee arbeitet man nicht in Büros, sondern in Betrieben. Es gibt den VEB „Apag“ (der Betriebsteil Aluminium-Formguß Falkensee), den VEB Frischeier, Broiler & Schweinemast, den VEB Gablona, die Produktionsgenossenschaft des Weberhandwerks, den VEB Wäscheunion, das Dienstleistungskombinat, das Transformatorenwerk, den VEB Sport-Toto und natürlich kann man auch im Rathaus arbeiten. Einige Leute pendeln auch nach Ostberlin, Potsdam und Hennigsdorf.
Und so lebst du dein Leben in Falkensee. Wenn man nicht gerade im Grenzgebiet lebt, ist der Alltag wenig eingeschränkt. Die Wirtschaft geht zwar bergab und hier und da sieht man einen sowjetischen Offizier, aber Falkensee selbst sprüht vor Leben. Vor allem den kulturellen Teil Falkensees findest du großartig. Du entscheidest dich zu bleiben. Zum einen, weil du keine Ahnung hast, wie du zurückkommen solltest, und zum anderen, weil das Leben hier eigentlich ganz schön ist. Deine große Schwester sieht das anders, das weißt du. Sie braucht ihre Freiheit, jedes Lächeln ist bei ihr eine Täuschung. Sie ist eine super Schauspielerin. Schließlich spielt sie jedem hier vor, eine gute Staatsbürgerin zu sein, obwohl sie den Staat insgeheim abgrundtief hasst.
Ein Tagebucheintrag von Yvonne, 1993:
Als die Mauer errichtet wurde, war ich gerade mal vierzehn Jahre alt. Sie grenzte mich nicht nur von Westberlin ab, sondern auch von meinem ganzen alten Leben. Ich hatte viel Zeit im Westen verbracht. Meine Freunde lebten dort und meine liebsten Veranstaltungen fanden dort statt. Plötzlich war der Teil meines Lebens weg, der mich glücklich gemacht hatte. Da war nur noch die andere Hälfte, die Schule. Ich mochte es noch nie, zur Schule zu gehen. Ich hasste es, wie man mich seit dem Kindergarten darauf getrimmt hatte, eine gute sozialistische Staatsbürgerin zu sein. Ich war noch jung, aber bereits da wusste ich, dass ich genau das nicht sein wollte. Ich wollte frei sein und eigene Entscheidungen treffen. Ich wollte nicht zur GST. Mein Plan war es, Abi zu machen, zu studieren und dann die Welt auf den Kopf zu stellen. Vielleicht Mitglied der SED zu werden, um sie dann zu manipulieren. Das war mein Ziel. Aber vorerst musste ich mich mit dem Leben in Falkensee abfinden. Mein Leben bestand aus Grenzen, schon immer. Das waren teils ganz kleine Sachen wie die geringe Auswahl an Lebensmitteln. Es gab kaum Bananen und Orangen, Fleisch gab es nur sonntags. An sich war das für mich kein Problem, aber ich hätte gerne zumindest die Möglichkeit gehabt, mehr als einmal pro Woche Fleisch zu essen und Bananen nicht für Unmengen an Geld kaufen zu müssen.
Mich hatte es schon immer genervt, dass es kaum Autos gab. Manchmal hatte ich einfach keine Lust zu laufen oder das Fahrrad zu nehmen. Die Busse kamen nur äußerst selten. Als die Mauer gebaut wurde, kam auch der S-Bahn-Verkehr zum Stehen. Schrecklich. Auch nach Berlin zu kommen, wurde von nun an zur Hölle. Es dauerte ewig, bis man Westberlin umfahren hatte und in der Hauptstadt der DDR ankam. Ein Freund von mir lebte leider genau dort und weil wir beide das Bedürfnis hatten, über diesen schrecklichen Staat zu lästern, fuhr ich ein- bis zweimal in der Woche zu ihm. Schlimm war auch die wirtschaftliche Lage. Vor dem Mauerbau war die noch stabil gewesen, aber mit der DDR ging es auf diesem Gebiet rapide bergab. Falkensee verkümmerte regelrecht.
Es fehlte an Waren und die Müllabfuhr war auch schlimm. 1968 hatten knapp 2500 von 9000 Häusern noch Außentoiletten und fast 1000 keine Wasserleitung. Die Ferienhäuser, die unter Zwangsverwaltung standen, nervten mich zu Tode. Wir brauchten den Platz eigentlich, um den Wohnungsmangel Falkensees entgegenzuwirken. Der war schrecklich. Ich wollte möglichst schnell ausziehen, damit meinen Eltern nichts passierte, sollte ich doch mal auffliegen. Das ging nur leider schlecht, wenn sich hier niemand drum kümmerte, neuen Wohnraum zu schaffen! Es war nicht zum Aushalten, wie wenig besucht Falkensee von nun an war. Früher war hier immer viel los. Die Bahnhöfe waren überfüllt, wir waren die „coole“ Vorstadt Berlins. Ab 1961 standen wir im Schatten der Mauer, viele Leute waren vorher geflüchtet. Die Stadtrechtverleihung war der reinste Witz. Lächelnde Menschen, eine große Party, obwohl alle einfach nur Angst hatten oder irgendwie mit den durch die Mauer entstandenen Problemen klarkommen mussten. Viele hatten ihre Arbeit verloren und sogar der Bürgermeister war kurz vor der Stadtverleihung geflohen. Wie gesagt: der reinste Witz.
Was ich auch gar nicht ausstehen konnte, war, wie man in meine Privatsphäre eingriff. Nicht nur, dass da überall sowjetische Offiziere herumstromerten, nein: Man wusste nie, ob man nicht gerade beobachtet wurde. Man musste immer aufpassen, was man sagte. Unsere Pakete wurden geöffnet, bevor sie zu uns gebracht wurden! Die Telefone wurden abgehört! Privatsphäre kümmerte hier niemanden.
Natürlich eröffneten sich mir auch neue Möglichkeiten, der Bau der Mauer riss erstaunlicherweise auch einige Grenzen ein. Mein Verhältnis zu meiner Familie verbesserte sich, weil ich jetzt unweigerlich mehr Zeit mit ihr verbringen musste und irgendwie war es auch schön, wenn man fast jeden kannte. In Falkensee waren wir eine große Gruppe, die zusammenhielt. Viele Leute schätzten das. Auch die kulturellen Angebote, die geschaffen wurden und teils auch schon vorher vorhanden waren, boten viele Möglichkeiten, um seine Persönlichkeit zu entwickeln und Freunde zu finden, auch wenn es letztlich nur eine Vorbereitung auf die Arbeit in Betrieben war. Und genau das konnte ich nicht leiden. Alles, was schön erschien, manipulierte uns nur, damit wir sozialistische Staatsbürger wurden. Sie drängten uns ihre Meinung nicht nur offen, sondern auch manipulierend auf. Ja, zwischen 1977 und 1989 wurden viele Schulen gebaut, aber 1982 nahm man meiner Schwester mit dem Schließen der EOS Georgi Dimitroff die Möglichkeit, in Falkensee Abitur zu machen. Von da an musste sie täglich nach Nauen fahren.
Als die Mauer dann endlich fiel, hätte ich nicht glücklicher sein können. Es dauerte etwas, bis ich mich an die Freiheit gewöhnt hatte, aber dann genoss ich sie in ganzen Zügen. Ich aß Nutella aus dem Glas und reiste um die Welt. An die Zeit mit der Mauer erinnere ich mich nicht gerne.
Disclaimer: Die Familie von Jaqueline ist vollkommen ausgedacht. Auch Frida existiert nicht. Der Text dient dazu, mit dem Alltag in Falkensee zu DDR-Zeiten vertraut zu werden.
Alltag in Falkensee von 1961 bis 1989
Der Ort Falkensee und dessen Bewohner
Bevor die Grenze zwischen Ost- und Westberlin in Form der Mauer blockiert wurde, war Falkensee ein Ort, der vor allem von Facharbeitern, Technikern und Ingenieuren als Wohnort bevorzugt wurde. Es gab ein gutes Verhältnis zwischen der Arbeit in der Fabrik und dem Wohnen mit Wäldern und einem See in der Nähe. Dieses Verhältnis wurde jedoch durch den Bau der Mauer am 13.10.1961 gestört. [8]
Von den etwa 12.500 Einwohnern in Falkensee arbeiteten circa 7.200 Personen, also um die 60 Prozent der Bevölkerung, nicht in Falkensee. Der Weg zur Arbeit wurde durch die Sperrung der S-Bahn-Verbindung verzögert. Die größten Arbeitgeber waren Stahlwerke und elektrotechnische Werke in Hennigsdorf mit 2.100 Beschäftigten. Innerhalb Falkensees waren nur etwa 5.300 Einwohner tätig. Hier sind die größten Betriebe der Landmaschinenbau sowie das Transformatorenwerk gewesen. [9]
Vor dem 13. August 1961 versuchte die SED die in Westberlin arbeitenden Falkenseer durch Schikanen zu überzeugen, ihren Arbeitsplatz aufzugeben. Davon waren circa 2.200 Personen betroffen. Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz nicht aufgeben wollten, wurden nach dem Bau der Mauer für Bahn- und Erntearbeiten eingestellt, für die sie allerdings nicht angemessen bezahlt wurden.[8]
Die Anzeichen des Verschließens der Grenze wurden immer stärker.
In Falkensee war kein festes Zentrum identifizierbar, aber in Falkenhagen, Seegefeld und Finkenkrug bildeten sich Dorfkerne, die einen Unterschied zu der Umgebung aufwiesen. [10]
Sechs allgemeine Schulen sowie eine Berufsschule dienten zur Bildung und 16 Einrichtung existierten für die Kinderbetreuung.
Es gab viele Klubs und in Seegefeld und Finkenkrug jeweils ein Kino. Außerdem hatte Falkensee sieben Kirchen unterschiedlicher Religionen. [9]
Versorgung während der DDR
Doch nicht nur durch diese Abgrenzung wurde die Stimmung in Falkensee immer schlechter. Auch die Versorgung während der DDR ließ zu wünschen übrig. Sie bestand aus einem weit verzweigten Netzwerk mit 215 Verkaufsstellen. [9]
Am Anfang entstanden Mängel in der Gemüse-, Kinderkleidung- und Industriewarenversorgung, die durch Umleitungen behoben werden sollten. Aus jenen Umleitungen resultierten jedoch anderswo Lücken. [10]
Auch dadurch wurde der Alltag der Einwohner Falkensees immer weiter eingeschränkt.
Die physische Grenze
Im Verhältnis zu den folgenden Wochen war die Grenze während der ersten Wochen nach dem Mauerbau nicht so stark verriegelt. Es wurde lediglich ein Stacheldrahtzaun entlang der Grenze erbaut. Mit der Zeit wurden die Regelungen immer weiter verschärft: Der Stacheldrahtzaun wurde mit zwei weiteren identischen Reihen verstärkt; Straßen und Wege, welche die Grenze durchquerten, wurden mithilfe von Bäumen, Gräben oder Barrieren versperrt und sich in der Nähe der Mauer befindende Häuser wurden im Herbst 1961 abgerissen. [11]
Falkensee erlangte das Stadtrecht am 07. Oktober 1961. Die Einwohnerzahl betrug zu der Zeit etwa 31.000 und somit war Falkensee die drittgrößte Stadt im Bezirk Potsdam. [10]
Mit der Zeit fiel diese Zahl immer weiter. Als Falkensee nur noch von 22.300 Menschen bewohnt wurde, entschied die SED, dass die Grenze unüberwindbar sein solle. In letzter Zeit gäbe es eine gestiegene Zahl von provokanten Handlungen gegen die SED und mehrere Fluchtversuche. Somit wurde festgelegt, dass „verdächtige Personen“, die sich gegen die DDR oder SED aussprachen, gemeldet werden sollten. [12]
Nun war die Grenze eine Barriere, die die Bewohner aus Westberlin endgültig aussperrte.
Unterhaltung und Informationsquellen
Die Bewohner der DDR nutzten das Fernsehen in den 1970er Jahren als wichtigste Informationsquelle und als beliebtestes Unterhaltungsmittel. [13]
Ihr Wissen über die aktuelle Lage bekamen sie hauptsächlich durch westliche Fernseh- und Radiostationen, wie zum Beispiel den RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) oder das Westfernsehen. Um gegen diese „Beeinflussung aus dem Westen“ vorzugehen, organisierte die Freie Deutsche Jugend (FDJ) eine Kampagne, in der sie all diejenigen diffamierte, die solche westlichen Medien konsumierten. Dabei wurden auch Fernsehgeräte beschlagnahmt. [8]
Politische und gesellschaftliche Situation
Die politische Lage war mangelhaft. Gleich nach dem Mauerbau wechselte der Bürgermeister vier Mal in zwei Jahren. Zwischen 1960 und 1961 besaß Falkensee daher fünf Bürgermeister. Bürgermeister Schuch hat während dieser Wechsel auch das Stadtrecht für Falkensee beantragt. [8]
Während der Zeit der DDR mussten die festgelegten politischen Regeln und Rituale eingehalten werden. [13]
Im September 1961 wurden Wahlen durchgeführt, in der die Zustimmung zu der Einheitsliste der Nationalen Front mit 99,96 Prozent gegeben wurde. [10]
Aufstände wurden durch die Kampfgruppen, die Parteimitglieder der SED, aber auch dazu gezwungenen Parteilosen bildeten, unterbunden. [14]
Die generelle Lage in Falkensee sah anfangs sehr gut aus. Über 80 Prozent der Bevölkerung lebte in Ein- oder Zweifamilienhäusern auf großen Grundstücken mit teilweise auch Bäumen oder Waldstücken.
Die Miete war sehr gering: Die Mieter bezahlten monatlich 50 bis 90 Pfennig, also ungefähr 0,25 bis 0,45 Euro pro Quadratmeter. [15] Bei diesem Vergleich muss das damals deutlich niedrigere Einkommen beachtet werden.
Im Jahr 1965 waren bereits die Polytechnische Oberschule „Friedrich Engels“, die 1976 und 1977 neu gebaut wurde, zehn neue Wohnblöcke an der Finkenkruger und Coburgerstraße mit 220 Wohnungen sowie eine Poliklinik mit 23 Arbeitsplätzen für Ärzte erbaut worden. [16]
Die SED versuchte die damalige Situation zu entschärfen, indem sie das „Neue Ökonomische System“ einführte, die die wirtschaftliche Lage stabilisiert hat. [15] Der wichtigste Punkt dieses Systems war die gesteigerte Selbstständigkeit der Betriebe, welche vom Volk verwaltet wurden. Somit konnten diese die Arbeiter dazu bringen, mehr Leistung zu zeigen. Das Projekt scheiterte jedoch nach zwei Jahren an der SED, die bei der zentralstaatlichen Wirtschaftsplanung keine Verluste aufweisen wollte. [17] Folglich wurden die Versorgung und Sozialfürsorge verbessert und der Handlungsspielraum der Einwohner erweitert, wodurch immer mehr neue Betriebe öffneten. Außerdem nahm ab 1975 die Bautätigkeit für Sozialbauten zu. Somit entstanden neue Wohnblöcke und andere Einrichtungen. [16]
Um die Frustration der Einwohner zu überdecken, wurden mehr Freizeitangebote und Veranstaltungen etabliert. [18]
Zudem wurde ein Markt toleriert, der mit Gegenständen anstatt von Mark handelte. In diesem konnten beispielsweise Fliesen gegen Rinderfilet getauscht werden. Zusätzlich wurden Intershop-Läden eröffnet, welche Westware für Westgeld anboten. Wer allerdings kein Westgeld besaß, konnte die Produkte in einem „Delikat-Laden“ kaufen. [19]
Des Weiteren wurde Sport zu einer Demonstration der Leistungsfähigkeit der DDR. Auch in Falkensee erzielten viele Sportler*innen zahlreiche Siege. In den Arbeitspausen wurden ebenfalls Sportübungen ausgeführt. [20]
Fazit
Die in Falkensee stark vertretenden Arbeiter konnten vor dem Bau der Mauer 1961 jeden Arbeitstag entspannt mit der S-Bahn zu ihrem Arbeitsplatz in Westberlin fahren. Jedoch wurde ihnen diese Freiheit durch den Bau der Mauer genommen. Diese baute sich als Grenze zwischen den Arbeitern und ihren Arbeitsplätzen auf und zerstörte somit die frühere Balance zwischen dem Wohnen und Arbeiten. Dieses Ereignis beeinflusste allerdings nicht nur den Arbeitsort oder -weg, sondern den gesamten Alltag. Neben einer großen Versorgungslücke und einer immer weiter blockierten Grenze zu Westberlin versuchte die damals regierende Partei SED, die Einwohner Falkensees gezielt zu beeinflussen. Dies passierte durch Kampagnen gegen westliche Medien oder den Versuch, durch mehr Freizeitangebote sowie mithilfe eines neuen Systems für die Wirtschaft, die Unzufriedenheit zu vertreiben. Bis 1989 lebten die Bürger in Falkensee eingeschränkt, verängstigt und unzufrieden. Natürlich war nicht alles in dieser Zeit „schlecht“, jedoch waren klare Schwierigkeiten und nicht erfüllte Bedürfnisse erkennbar.
Veränderungen im Alltag nach dem Mauerfall
Alle wörtlich zitierten Sätze stammen aus dem Interview mit Annelies Kubicki vom 07.12.2024 bei ihr Zuhause.
Alltag: Gewohnheitsmäßige Abläufe, die sich im Tages- oder Wochenzyklus wiederholen. Aber was bedeutet dieses Wort? Was bedeutete es den Menschen in der DDR und wie veränderte sich ihr Alltag nach dem Mauerfall?
In der DDR war das Leben der meisten Menschen lang vorgezeichnet, so erklärte es uns Daniela S. in einem Interview. Sie habe schon seit der neunten Klasse gewusst, welches Studium sie wählen und welchen Beruf sie später ergreifen würde. Das lag vor allem daran, dass es in der DDR sehr schwierig war, Abitur zu machen. Selbst sehr gute Schüler wurden häufig nicht zugelassen, da die Plätze sehr begrenzt waren. So nahm Daniela S. ihrem Plan folgend das Studium zur Unterstufenlehrerin auf, nachdem sie die 10. Klasse abgeschlossen hatte. Sie wollte in den Klassen eins bis vier Lehrerin für Deutsch, Mathematik und Musik werden. Aus diesem Studium bestand ihr Alltag, als sich am 9. November 1989 plötzlich alles für sie änderte.
Danielas Studium hatte kaum begonnen, da fiel schon die Mauer. Die vielen großen und kleinen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland wurden im Einheitsvertrag geregelt, der im Mai 1990 geschlossen wurde. Darin wurde unter anderem beschlossen, dass die Abschlüsse des Fachschulstudiums von Daniela S. nicht anerkannt werden sollten. Als Kompromissvorschlag wurde den Studierenden angeboten, nach Abschluss ihres Studiums einen eingeschränkten Zugang an der Humboldt-Universität für Sonderpädagogik zu erhalten. Daniela S. hatte sich vor dem Mauerfall nie mit anderen Interessen, Ausbildungsmöglichkeiten oder Abitur beschäftigt. Ihre Eltern hatten kurz zuvor ihren Job verloren, da sie im Staatsdienst der DDR tätig gewesen waren. Daher rieten sie Daniela S. zu einem Ausbildungsplatz anstelle eines nachträglichen Abiturs. Diesen bekam sie ab September 1991 bei einem Arbeitgeber in Westberlin.
Bei der Jobsuche spielte es laut Daniela S. eine geringe Rolle, aus welchem Teil Deutschlands man kam. Nach dem Beruf ihrer Eltern wurde sie zwar gefragt, negative Erfahrungen in Bezug auf diesen habe sie persönlich jedoch nicht gemacht, wie sie uns sagte. Viele in der DDR ansässige Firmen wurden aufgelöst, was nicht nur dazu führte, dass gewohnte Produkte aus dem Supermarkt verschwanden. Es hatte auch zur Folge, dass viele Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Die Menschen in der DDR waren verunsichert. Arbeitsplätze und Einkommen drohten plötzlich für viele zu entfallen und nebenbei wurden Streitfragen diskutiert, die wesentlich weniger wichtig für die Bevölkerung waren. In einer dieser Diskussionen ging es um die Form der Ampelmännchen. Auf unsere Frage, ob sie auch privat Diskussionen mit Menschen aus dem Westen gehabt hätte, antwortete Daniela S., dass es die auf jeden Fall gegeben hätte. Jedoch eher in Form von offenen Unterhaltungen und nur selten als Disput.
Die Meinungen über den Mauerfall gingen anfangs weit auseinander. Auf der einen Seite verloren viele Menschen ihren Job, auf der anderen hatten sie plötzlich unverhoffte Freiheiten. Sie konnten reisen, wohin sie wollten, den Job ergreifen, den sie sich aussuchten und Abitur machen, wenn sie es wollten. Sicher vollzogen sich im Alltag vieler Menschen - besonders in der ehemaligen DDR - nach dem Mauerfall große Veränderungen. Es hatte für viele den Anschein, als zögen sich neue, soziale und damit nicht auf den ersten Blick ersichtliche Grenzen.
Anfangs führte dies zu zusätzlichen Unsicherheiten innerhalb der Bevölkerung. Seinen Alltag kann man sich plötzlich selbst aufbauen. Genauso kann man ihn wieder neu errichten, wenn er durchbrochen worden ist, und so den vorherigen hinterfragen, wie es Daniela S. tat. Und genau wie sie waren im Nachhinein die meisten Menschen froh über den Fall der Mauer: Die gewonnene Freiheit hatte eine größere Bedeutung als die neuen, schwierigen Herausforderungen.
Das Leben im Grenzstreifen
Alle wörtlich zitierten Sätze stammen aus dem Interview mit Annelies Kubicki vom 07.12.2024 bei ihr Zuhause.
Es war der 13. August 1961. Mitten in der Nacht war die Grenze gezogen worden und stellte damit das Leben in ganz Falkensee auf den Kopf. Frau Kubicki lebte damals im Grenzstreifen, in der Nähe der Pestalozzistraße in Falkensees Stadtteil Falkenhöh. Westberlin gehörte zu dieser Zeit zu ihrem Alltag: Sie ging dort einkaufen, ins Kino oder zu anderen Freizeitaktivitäten. Die Grenze nahm sie anfangs jedoch gar nicht ernst. Sie machte damals eine Ausbildung zur Fotografin. Als die Mauer gebaut wurde, macht sie Fotos davon, einige der wenigen, die es überhaupt gibt. Denn die DDR untersagte schon vor dem Mauerbau jedem, auch nur in die Nähe des Zauns zu kommen. Aber alles von Anfang an:
Das Erste, was Annelies Kubicki von der Grenze mitbekam, waren Geräusche bzw. zunächst einmal fehlende Geräusche. Von ihrem Haus aus hatte sie die S – Bahn hören können, die regelmäßig fuhr. Am Abend des 13. Augusts verstummte das Geräusch jedoch. Den Bau des Zauns bekam sie jedoch mit. An jenem Abend war außerdem ihr Verlobter in Westberlin im Kino und kaufte sich um Mitternacht ein Ticket nach Albrechtshof. Der Ticketverkäufer fragte ihn, ob er denn überhaupt in den Osten zurückwolle. Schließlich würden die Grenzen geschlossen werden. Herr Kubicki nahm die Frage des Verkäufers nicht ernst und kaufte eine der letzten Karten vom Westen in den Osten. Tage später ging Frau Kubicki mit ihrem Mann zum Bahnhof Albrechtshof zurück und realisierte, dass es keinen Weg mehr nach Westberlin gab.
Am Anfang sei die Grenze gar nicht wichtig gewesen, erzählt Frau Kubicki uns. Damals dachte sie, es sei nur vorübergehend. Erst als die Mauer gebaut wurde, erkannte sie, was eigentlich passierte, und machte Fotos davon. Nachdem sie später ihre Ausbildung zur Fotografin abschloss, fing sie an der Akademie der Künste in Berlin an. Dort bekam sie von Kennedys Besuch in Berlin mit und schoss einige Fotos davon, aber weil die Distanz zu weit war, erkennt man auf den Bildern kaum etwas.
Auch der Alltag in Falkensee war für die Familie Kubicki speziell, da man sie ohne Passierschein nicht besuchen durfte. Zwar konnten ihre Kinder bis zur dritten Klasse ohne Probleme von Freunden Besuch bekommen, später wurde dies aber nahezu unmöglich. An einem Montag, als eines ihrer Kinder gerade die 3. Klasse besuchte, stand die ganze Schule zum Fahnenappell, als die Direktorin der Schule ein Verbot aussprach, das Grenzgebiet zu betreten. Von da an wurde es schwierig, Freundschaften und andere Beziehungen aufrechtzuerhalten.
Auch Handwerker waren selten im Grenzstreifen, denn es brauchte unzählige Genehmigungen und Überprüfungen, bis man dort arbeiten durfte. Außerdem brauchten viele Handwerker die Einnahmen gar nicht, die sie mit der Arbeit im Grenzstreifen verdienen konnten. Als Frau Kubicki einen neuen Ofen brauchte, hatte sie fast keine Chance, einen zu bekommen. Schließlich fand sie zum Glück einen Bekannten, der im Handel tätig war und ihr einen besorgen konnte. Dieser konnte jedoch nicht ins Grenzgebiet geliefert werden, sondern wurde kurz vor dem Gebiet im Staakener Heuweg abgestellt. Ein Bekannter kam schnell vorbei, um Frau Kubicki über den gelieferten Ofen zu informieren. Als er das Grenzgebiet schleunigst wieder verließ, wartet im Staakener Heuweg schon die Grenztruppe auf ihn. Er wurde eine Nacht auf dem Polizeirevier in der Kochstraße verhört und unter Verdacht der geplanten Republikflucht gestellt. Erst am nächsten Morgen ließ man ihn wieder frei.
Frau Kubicki erzählte uns jedoch auch von den positiven Seiten des Lebens in der DDR. Das Konkurrenzdenken sei nicht so stark geprägt gewesen, was für ein gemeinschaftlicheres Leben sorgte. Auch in der Kindererziehung habe das DDR-System jungen Eltern geholfen. Der Graben zwischen Arm und Reich sei nicht so groß gewesen wie heute. Auch Wohnraum und Arbeitsplatz seien sehr sicher gewesen, jedoch staatlich gelenkt. Man habe also kaum eine Wahl gehabt. Die Reise- und Meinungsfreiheit hätten ganz gefehlt.
Des Weiteren betonte sie, dass trotz aller Schwierigkeiten die meisten DDR Bürger ein weitgehend normales Leben lebten. Sie gestalteten mit Fleiß und viel Ideenreichtum ihren Alltag und ihr Leben. Diese persönlichen Lebensleistungen sollten anerkannt und nicht vergessen sein.
Dennoch ist sie heute sehr froh und dankbar, nun schon lange im geeinten Deutschland zu leben.